Freitodbegleitung: Was geschieht in der letzten Stunde vor dem Tod?

Was sind die letzten Wünsche, bevor man stirbt, und kann man alle erfüllen? Kann man auch als (Ehe-)Paar Suizidhilfe in Anspruch nehmen, und gemeinsam sterben? Wer darf in dieser letzten Stunde dabei sein? Wie lange dauert es, bis jemand wirklich tot ist, und hat man Schmerzen dabei? Die Exit-Begleitperson Gioia Hofmann berichtet in ehrlichen Worten aus ihrem Alltag, und erklärt uns, weshalb Freitodbegleitung der bessere Weg, als ein einsamer und gewaltsamer Suizid ist. 

 

Hinweis von Exit: Bei Paaren werden die Abklärungen immer unabhängig voneinander geführt, das bedeutet, dass sie auch immer zwei verschiedene Begleitpersonen zugewiesen bekommen.

 

Denkanstoss - EXIT, was geschieht in der letzten Stunde vor dem Tod?

 

Wenn Sie dieses Bett sehen, denken Sie wahrscheinlich nicht gleich an das Sterben. Wenn ich Sie nun fragen würde, wo Sie sterben möchten, wenn Sie eine Wahl haben, was würden Sie sagen? Immer mehr Menschen, die krank sind und leiden, suchen Hilfe bei einer Sterbehilfeorganisation. Wir lernen nun Gioia Hofmann kennen, die bei Exit Sterbebegleitung macht und sie verzählt uns, wie die letzten Stunden von diesen Menschen aussehen.

 

 

Wir haben diesen Ort hier ausgewählt im Wohnzimmer, da viele Begleitungen, die du machst, zuhause stattfinden. Ist der Häufigste Ort das Bett, wo die Personen sterben möchten?

 

Gioia: Ich glaube die meisten Leute haben die Vorstellung, dass die Sterbehilfe im Bett stattfindet. Wenn ich anschliessend sage, dass dies nicht sein muss, sehe ich, dass einige sich es nochmals überlegen. Es muss einfach ein Ort sein, wo die Person gut sitzen kann und nicht vom Stuhl kippen kann, beispielsweise ein bequemer Sessel. Aber es ist so, dass die meisten das Bett wählen.

 

Braucht es eine spezielle Vorrichtung oder kann jeder Mensch bei sich zuhause sterben, ohne dass er ein Spitalbett braucht?

 

Nein es braucht keine Vorrichtung. Es kann auch eine einfache Matratze am Boden sein.

 

Viele Menschen, die Freitodbegleitung machen, kommen aus der Pflege, haben als Pflegefachperson gearbeitet? Welchen Grund hat dies deiner Meinung nach?

 

In der Pflege begleitet man ganz viele Personen in den Tod und manchmal ist es ein harter und langer Kampf, bis jemand sterben kann. Die Vorstellung, dass jemand mit einer schlimmen, unheilbaren Krankheit, schmerzvoll, mit schwierigen Nebenwirkungen von Medikamenten

einfach friedlich kann einschlafen ist sehr tröstlich.

Ich denke, dies ist ein Grund, dass viele aus dem Pflegepersonal sich fragen, ob es nötig ist, dass Menschen wochenlange unnötige Todeskämpfe haben müssen.

 

Was ist dein Beweggrund, um bei Exit Sterbebegleitung zu machen?

 

Der eine Grund ist, dass ich selbst Pflegefachfrau bin. Ich habe sehr viele Leute begleitet. Einerseits im Akutspital in der Spitzenmedizin. Danach habe ich gewechselt ins Alter und arbeitete als Gerontologin. Ich bekomme viel mit, wie Menschen nicht loslassen können, was aber oft damit zu tun hat, dass sie mit Medikamenten vollgepumpt werden. Wodurch sich die Frage stellt, ob das Sinn macht.

Ein weiterer Grund ist, dass ich sehr viele Suizidversuche behandelt habe, vor allem im Universitätsspital. Ich fand das zum Teil sehr traurig, dass alle behandelt wurde, als müssten sie dankbar sein, dass man sie gefunden und gerettet hat. Oft wird eine solche Handlung als Hilfeschrei getätigt. Jedoch gibt es tatsächlich ganz viele Leute, die sich umbringen wollten, wurden gerettet, woraufhin sie dankbar sein müssen. Diese Szenen habe ich schrecklich gefunden. Suizid finde ich allgemein sehr schlimm. Es ist einsam für die Person, die Suizid begeht. Häufig sind andere Personen involviert, die dadurch einen Schock haben, weil sie Personen finden in einem sehr unangenehmen Zustand. Der Freitod ist etwas, was die ganze Situation für alle Beteiligten besser lösen kann.

 

Das heisst bei Exit sind nicht nur Personen, die sterbenskrank sind, sondern auch diejenigen, welche einfach keinen Sinn mehr sehen, ohne sterbenskrank zu sein?

 

Die meisten Menschen, die wir begleiten, haben zum Tode führende Krankheiten. Die meisten leiden auch sehr unter körperlichen Problematiken, wie Schmerzen, Gehörlosigkeit und weiteren Einschränkungen. Wir haben auch teilweise, meistens hochaltrige Leute, die einfach nicht mehr genug Kraft haben oder nicht mehr wollen. Wir brauchen eine Diagnose, trotzdem müssen wir genau hinschauen, was die Situation ist. Eine totale Vereinsamung oder sich nicht mehr fähig fühlen das Leben zu bestreiten, können auch Diagnosen sein. Jedoch wird alles sehr genau abgeklärt. Wir begleiten nicht einfach jemand unvorsichtig. Es ist auch etwas, das nicht dringend ist. Bei ernsthaft kranken Menschen, pressiert es manchmal.

 

 Wie weit im Voraus lernst du deine Klienten kennen?

 

Das ist wieder sehr unterschiedlich. Die meisten wollen zunächst einmal ein Abklärungsgespräch. Eine Begleitung kann zum Teil erst Monate oder Jahre nach einem solchen Gespräch erfolgen. Es gibt aber auch Personen, die sich melden, wenn die Situation nicht mehr aushaltbar ist und dann nur wenige Tage zwischen dem Erstgespräch und der Begleitung liegen.

 

Hast du auch schon Paare gehabt, die zusammen gehen wollten?

 

Ja ich habe auch schon Paare gehabt, die zusammen gehen wollten. Ich finde das persönlich eine eher schwierige Geschichte. Ethisch gesehen. Exit begleitet Paare. Diese Situationen werden sehr genau abgeklärt. Es kann sehr gut für beide sein. Ich finde es aber schwierig. Auch für die Angehörigen der Doppelbegleitungen und empfehle darum Ehepaaren, wo beide krank sind, der Stärkeren Person die Schwächere Person zu begleiten und, dass nachher nochmals eine Begleitung für die andere Person stattfindet. Aber es gibt Leute, die gemeinsam Hand in Hand auf dem Bett einschlafen wollen.

 

 

Das Ganze hat eigentlich eine sehr romantische Vorstellung?

 

Es hat eine romantische Vorstellung, jedoch hat die Romantik an sich, dass es oftmals nicht ganz so ist, wie es man sich vorgestellt hat.

 

 

Über das sprechen wir nun. Wie genau die letzten Stunden ablaufen, wenn du zum letzten Mal auf den Besuch zu jemanden gehst, an die Türe klopfst. Wie viele Leute dürfen dabei sein, wenn jemand den Freitod wählt? Wie viele Freunde, Bekannte?

 

Nach Corona kann man machen, was man will. Man kann die ganze Wohnung füllen oder ein Fest veranstalten. Ich habe persönlich noch nie erlebt, dass jemand ein Fest veranstaltet hat. Ich habe das gehört von Nachbarinnen, die an eine Begleitung gegangen sind und ziemlich überrascht waren, dass 70 Leute anwesend waren. Jedoch wollen die meisten Menschen nur die engsten Angehörigen dabei.

 

Hast du schon erlebt, dass Kinder dabei waren?

 

Bei der eigentlichen Begleitung nicht, aber dass Kinder schon zuvor da waren, um vom Grossvater Abschied zu nehmen. Kinder dürfen dabei sein, jedoch müssen das die Eltern entscheiden, ob sie das wollen.

 

 

Wenn du schliesslich vor einer Türe stehst, hinter welcher sich die Person und deren Familie befindet und du die Tiere öffnest, wie ist die Stimmung, die dir entgegenkommt? Haben sie Angst, sind sie freudig? Welche Emotionen kommen da auf dich zu?

 

Angst haben sie sehr selten. Vor allem die Sterbewilligen haben sehr selten Angst, da sie sich lange damit auseinandergesetzt haben. Es bedeutet nicht automatisch, dass die Angst weg ist, sondern die Erleichterung, dass es endlich so weit ist. Bei den Angehörigen spüre ich eher eine Aufgekratzt Heit oder Anspannung. Sehr viel Trauer nehme ich wahr und auf der anderen Seite hat es häufig auch eine festliche Stimmung. Was oft dadurch zu begründen ist, dass man meistens vorher noch alles geklärt hat. Familie und Freunde haben zuvor noch Gespräche gehabt und sich noch alles gesagt. Oft haben sie sich bedankt oder auch noch ein Problem angesprochen. Es gibt eine Möglichkeit alles noch zu klären.

 

 

Gibt es Wünsche der Sterbenden, Personen, die sterben wollen, die du noch berücksichtigen kannst oder auch welche, die du nicht berücksichtigen kannst?

 

Es erstaunt mich, dass die Wenigsten noch Wünsche haben. Ich sage ihnen auch noch, dass sie die Sterbebegleitung noch ein wenig planen können. Musik auswählen, eine Kerze anzünden oder was sie sich wünschen. Die Meisten wollen gar nichts mehr. Zum Teil passiert es aber auch, dass sie im Vorgespräch sagen, sie wollen nichts und sich aber noch umentscheiden. Ich musste bis jetzt noch nie ein Wunsch ablehnen, da sie sehr bescheiden ausfallen.

 

 

Ein letzten Schluck Schnaps, wäre kein Problem, auch in Bezug auf das Medikament, dass man nachher zu sich nimmt?

 

Nein ein Schluck Alkohol wäre kein Problem. Kaffee sollte man nicht in den Unmassen zuvor trinken oder saure Sachen, wie Säfte. Wichtig ist, dass man urteilsfähig bleibt. Sich zuvor zu betrinken, wäre daher keine gute Idee.

 

 

Welches Medikament nimmt man zu sich?

 

Es ist unterschiedlich. Wir begleiten zwei Varianten. Das erste wird in Form von Tabletten genommen. Die Person schluckt also das Medikament. Es ist ein Narkotikum, welches verabreicht wird als eine Überdosis. Es ist ein Pulver, dass sich im Wasser auflöst und man anschliessend den halben Deziliter trinken muss. Es ist sehr bitter, aber dafür sehr schnell getrunken. Wenn sie diese Form wählen, bekommen sie zuvor etwas gegen die Übelkeit. Anschliessend muss man noch etwas warten, damit das Medikament wirkt. Zum Spülen können ein Wasser, Tee oder Alkohol gebraucht werden, damit der bittere Geschmack verschwindet.

 

Die andere Möglichkeit ist durch eine Infusion. Wir haben auch viele Personen bei uns, die nicht mehr gut schlucken können. Bei dieser Variante nehme ich eine Infusionsfachperson mit, da es eine Person sein muss, welche das Infusionshandwerk wirklich sehr gut beherrscht. Diese üben mit den Personen noch, wie man das Rädchen bei der Infusion oder den Dreiweghahn dreht. Zunächst übt man das Ganze noch mit den Personen mit einer Kochsalzlösung und erst wenn man sicher ist, dass die Personen in der Lage dazu sind, spritzt man das Sterbemittel in die Infusion. Danach müssen die Personen selbst die Infusion aufdrehen. Weder ich noch jemand der Angehörigen darf dies machen.

 

Wenn man den letzten Schritt gemacht hat, wie lange dauert es bis der Tod eintritt?

 

Das ist sehr unterschiedlich. Wir sind nicht alle gleich. Meistens ist es jedoch so, dass man in wenigen Minuten einschläft. Weil das Sterbemittel ein Narkotikum ist, befindet man sich zunächst in einer Narkose. Meistens geht es sehr schnell, darum ist es wichtig für die Angehörigen, dass sie sich vorher verabschieden.

 

 

Das Ganze klingt sehr friedlich, haben die Personen keine Schmerzen?

 

Manchen schmeckt das Medikament nicht, oder sie haben ein leichtes Brennen, jedoch schlafen sie meistens gleich ein.

 

 

Wie ersichtlich ist es, bzw. merkt man, dass jemand tot ist? Sehen es die Angehörigen?

 

In meinen Augen sieht man bei einer Person sofort, wenn die Seele, Aura oder wie man es nennen möchte, geht. Eine Hülle bleibt zurück. Diese Veränderung kann man nicht beschreiben, jedoch ist sie da. Die Angehörigen sagen danach, sie haben den Moment gespürt, indem sie gegangen ist. Das Besondere eines Lebens geht.

 

 

Ich stelle mir den Tod als ein sehr intimes Erlebnis vor, ist das so?

 

Das stimmt. Der Tod ist eines der intimsten Erlebnisse. Dies ist das Schöne der Sterbebegleitung, die Angehörigen haben die Möglichkeit die Person zu halten und dabei zu sein. Die Sterbenden dürfen ihre Liebsten, bei sich haben. In den Pflegheimen und Spitäler habe ich oftmals erlebt, dass die Menschen allein sterben. Oder in der Betreuung des Pflegepersonals, dass sie kaum kennen.

 

 

Was sind deine nächsten Schritte, wenn die Angehörigen Abschied genommen haben? Was passiert anschliessend?

 

Ich muss anschliessend der Polizei anrufen. Dies ist schon mit den Angehörigen abgesprochen. Es ist ein sogenannter ausserordentlicher Todesfall. Anschliessend kommt die Polizei und in der Stadt Zürich das IRM (Institution für Rechtsmedizin). Auf dem Land oder in kleineren Städten kommt der Amtsarzt/-ärztin. Diese müssen einerseits den Tod feststellen und andererseits überprüfen, dass nichts Kriminelles passiert ist. Überprüfung der Dritteinwirkung erfolgt auch, wenn jemand an einem natürlichen Tod zuhause stirbt.

 

Gibt es Wünsche, die dir in Erinnerung geblieben sind? Die dich berührt oder überrascht haben?

 

Ich hatte letztens eine Begleitung, die mich berührt hat. Ein Mann wollte, dass ich etwas früher komme, damit wir noch "Duzis" machen. Er war vor der Begleitung noch mit mir am Sprechen und hat meine Hand gehalten. Es war ihm wichtig, dass ich nicht irgendeine Person bin, sondern hatte mich vor seiner Begleitung ins Herz geschlossen.

 

 

Wenn du eine Freitodbegleitung gemacht hast, tagsüber, hast du ein Ritual, wenn du nach Hause kommst? Da es doch sehr intime Momente sind. Wie gehst du damit um?

 

Ja ich nehme die Menschen auch nach der Sterbebegleitung mit mir mit. Es ist sehr emotional und nicht einfach eine Nummer. Häufig beginnt mein Ritual schon nach der Sterbebegleitung. Da ich mit dem Fahrrad oder zu Fuss unterwegs bin, gehe daraufhin in die Natur. Ich lasse meine Gedanken ein wenig fliegen und überlege mir, was gut gewesen ist und was nicht.

 

 

Hast du schon einen Freitod begleitet, der nicht so gut gelaufen ist, wie erwartet?

 

Ich habe einen Freitod begleitet, bei dem jemand der Angehörigen sich über mich beschwert hat, was mich sehr irritiert hat. Wir sind eine ganze Organisation und ich habe daraufhin ein längeres Gespräch mit meinem Vorgesetzten gehabt. Es ist auch etwas, was man aufarbeitet.

Ich finde es wichtig diese Dinge aufzuarbeiten. Es hatte auch ein Teil Wahrheit dabei und man lernt aus solchen Situationen. Ich werde darum in Zukunft immer ein Gespräch mit den Angehörigen haben, wenn es möglich ist.

 

 

Gioia, hast du einen Denkanstoss für uns und unsere Zuschauer?

 

Wir sollten den Tod nicht mehr so fest aus unserem Leben verbannen. Der Tod gehört dazu, wir alle werden gehen müssen. Ich hätte den Wunsch, dass man sich auch ausserhalb von Exit Gedanken mit sich und seinen Angehörigen macht, was man sich wünscht, wenn man verstirbt. Ausserdem bespricht, was passieren soll, falls man schwerverletzt im Spital liegt, auch bezogen auf Organspende. Man soll diese Themen besprechen ohne Angst, sondern so seine eigenen Wünsche äussern können. Der Tod selbst ist nicht Schlimmes. Der Weg dahin, kann steinig und schmerzhaft sein. Aber der Tod selbst nicht.

 

Interview - Julia Zink | Anima Tua